Cerro Estrella
Puna Salteña
Blick vom Cerro Estrella
Puna Salteña
Mina Julía
Puna Salteña
Puna Salteña
Argentiniens Puna
"La Puna deja huellas" oder "Im Höhenrausch"
- Teil 3 Tolar Grande -
Tag 7 – Tolar Grande
Unerbittliche Puna - von verlassenen Minen, verlassenen Orten und einem Bahnhof im Niemandsland
In der Nacht werde ich mehrmals wach. Die Decken, die mich wärmen sollen, verselbstständigen sich immer wieder. Viele Reisende vermissen deutsches Brot, ich hingegen vermisse nicht das erste Mal eine (!), auf die jeweilige Temperatur abgestimmte Decke. Meine Nase ist verstopft und ich habe ständig Durst, sodass ich froh bin, drei nachfüllbare Wasserflaschen in meinen Koffer gepackt zu haben. Diese sind im 24/7 Dauereinsatz. Solch eine Trockenheit habe ich bisher noch nicht erlebt.
Beim morgendlichen Blick in den Spiegel stelle ich fest, dass meine Zähne immer noch in unterschiedlichen Weißtönen leuchten, aber die hellweißen Sprenkel sind zumindest verschwunden. Nichtsdestotrotz fühlt sich die Situation ein bisschen merkwürdig für mich an.
Es ist mittlerweile so kalt im Zimmer geworden, dass ich mich nun entgegen meiner ursprünglichen Absicht entschließe, das Heizgerät anzuschließen. Kaum hat das Gerät Verbindung zum Stromnetz, erhellt es mit seinen glühenden Heizstäben den kleinen Raum. Ratternd dreht es sich in der instabilen Halterung von links nach rechts und von rechts nach links. Ich beobachte das Schauspiel sehr misstrauisch, nach einiger Zeit stelle ich keine nennenswerte Erwärmung des Raumes fest und entscheide, besser weiter zu frieren als meiner Versicherung möglicherweise erklären zu müssen, wie ich eine Hostería im fernen Argentinien mit einem Gerät abgefackelt habe, das jedem hiesigen TÜV-Prüfer in Sekundenschnelle eine Frisur bescheren würde, wie Telly Savalas sie trug.
In der Hostería wird kein Frühstück angeboten. Wir könnten heute früh erneut ins Restaurant fahren, in dem wir gestern Abend gegessen haben, aber mein Guide hat sich bereits um alles gekümmert. Er bereitet im kleinen Gemeinschaftsraum ein köstliches Frühstück für uns vor. Ein toller Service!
Im Zimmer neben mir wohnt ein Paar aus der Schweiz, das ebenfalls mit einem Guide der gleichen Agentur unterwegs ist. Heute werden sie eine ähnliche Route wie wir fahren und für längere Zeit die einzigen anderen Menschen sein, die wir sehen werden. Beide kommen jedoch nicht in den Genuss eines privaten Frühstückes, wie ich es von meinem Guide serviert bekomme.
Kurz vor halb Neun sitzen wir beide wieder im Fahrzeug. Direkt hinter Tolar Grande gibt es auch ein Labyrinth, nur wesentlich kleiner als das, das wir gestern im schönsten Abendlicht besucht haben. Wir queren den Salar de Arizaro, den drittgrößten Salzsee in den Anden. Im Morgenlicht strahlt der Salzsee in einem lehmigen Rotbraun. Ein Schild mit dem Namen des Sees hätte man nicht besser wählen können, bedeutet der Name Arizaro aus dem Indigenen in etwa frei übersetzt: Der Ort, an dem jeder dem Tod geweiht ist. Nun gut, ich hoffe, dass das nicht für eine deutsche Touristen zutrifft und sie sich einfach nur an dem Schild mit pittoresker Dekoration erfreuen darf.
Die umliegenden Berghänge der Ebene auf über 3.500 Metern leuchten in einer Palette aus Rot- und Erdtönen vor dunkelblauem Himmel. Nachdem wir die ebene Piste hinter uns gelassen haben, steigt die Straße stetig an.
Am Straßenrand und manchmal auch auf der Straße stehen scheue und grazile Vikuñas, die zumeist fluchtartig das Weite suchen, sobald wir uns mit dem Wagen nähern.
Zwischen Caipe, das wir am Nachmittag noch besichtigen wollen, und der Mina Casualidad weist die Fahrbahn eine Asphaltdecke auf. Diese ist aber teilweise dermaßen löcherig und beschädigt, dass ich regelmäßig durchgeschüttelt werde, besonders breit ist sie ebenfalls nicht und führt, wie ich es mittlerweile gewöhnt bin, entlang der Berghänge an ungesicherten Abhängen entlang. Wir machen kurze Fotostopps, damit ich die unterhalb liegenden Salzseen fotografieren kann. Hier gibt es einige Minen, so wie ich sie auch schon bereits gestern in der Ferne habe sehen können. Gefördert wird in der Puna hauptsächlich Borax, Gold, Sulfur und Lithium, nach dem wir alle so sehr dursten. Nicht sonderlich überraschend für mich, erfahre ich, dass sich etwa 80 % der Minen in chinesischer Hand befinden. Bei den verbleibenden 20 % hat Kanada keinen unwesentlichen Anteil. Ebenso wenig überraschend für mich ist, als mein Guide mir sagt, dass die hier lebenden Menschen kaum von der Gewinnung der wertvollen Bodenschätze profitieren. Während der Hochzeit der Coronapandemie, die auch hier das Tourismusgeschäft zum Erliegen brachte, arbeitete er in einer Mine auf über 4.000 Metern Höhe, die er mir nun in der Ferne zeigt.
Wir können nicht zu viele und zu lange Stopps einlegen, denn unser Ziel heißt Mina Julía. Diese verlassene Mine auf mehr als 5.200 Metern ist nur wenige Zeit im Jahr zugänglich, zudem herrscht oftmals ein unerbittlicher Wind, um nicht zu sagen Sturm, dass man selbst in dem möglichen Zeitraum einer Anfahrt in vielen Fällen wieder umkehren muss. Je später am Tag man vor Ort ist, umso geringer ist die Chance, dass man es bis ganz nach oben zur Mine schafft.
So lassen wir auch die Mina Casualidad erst einmal links liegen. Hier endet auch der Asphaltbelag. Ich würde sagen, auch die Straße, denn nun folgen wir einer Piste, die zeitweise nicht mehr als solche zu erkennen ist. Wir befinden uns bereits auf 4.300 Metern Höhe und es geht immer weiter hinauf. Nun wieder auf einer Schotterpiste fahren wir eine Zeitlang über eine Hochebene und die Ausblicke auf die umliegenden Vulkane sind gigantisch. Ich sehe den Llullailco mit seinen 6.739 Metern, auf dessen Gipfel die drei Kindermumien gefunden wurden und den Socompa mit 6.051 Metern, immerhin mehr als doppelt so hoch wie der höchste Berg Deutschlands.
Vor uns liegt eine Ebene, gesprenkelt mit roten Steinen, dahinter leuchten Berge in rötlichen Tönen und einer – ich kann es kaum fassen – verfügt über gelbe und leicht grünliche Töne, wie passend dazu ist sein Name, Cerro Estrella. Nachdem wir die Ausläufer des Sternenbergs erreicht haben, müssen wir zweimal umkehren und eine andere Zufahrt suchen, da uns beide Male Büßerschneefelder, die im Spanischen Los Penitentes heißen, den Weg versperren. Aber mein Guide findet einen Weg und wir fahren zielgerichtet auf Pisten bis unterhalb des Gipfels. Nahezu zeitgleich erreicht das Schweizer Paar mit seinem Guide mit uns das Ziel. Sie müssen einen anderen Weg gewählt haben. Ich bin sogar ein wenig froh darüber, dass wir hier an diesem gottverlassenen, lebensfeindlichen und gleichzeitig so unbeschreiblich schönen, grandiosen Ort nicht alleine mit einem Fahrzeug unterwegs sind. Wir haben unglaubliches Glück, dass uns heute die Zufahrt möglich war, das ist alles andere als selbstverständlich und eher wohl die Ausnahme als Normalität.
Hier stehe ich nun und blicke auf den Cerro Estrella. Ich drehe mich nach links und schaue nach Chile. Diese Farbenexplosionen in dieser Kargheit, diese so unwirkliche und einsame Landschaft, ich bin fassungslos. Das kann man nicht auf Fotos festhalten. Mir laufen Tränen die Wange hinunter und daran trägt nicht nur der eiskalte, unerbittliche Wind seinen Anteil. In der Ferne sehe ich wie aus dem Stratovulkan El Lastarria (5.697 m), der auch unter dem passenden Namen Azufre mit seinem gelb getupferten Krater bekannt ist, eine kleine Eruption erfolgt. Gigantisch, phantastisch … wäre nur nicht der stürmische und eiskalte Wind, der es kaum ermöglicht, hier länger zu verweilen.
Einige Meter weiter unten, wo die beiden Guides mit den Wagen warten und der eiskalte Wind nicht ganz so unerbittlich bläst, stehen die Ruinen einstiger Gebäude; ebenso die Reste der Seilbahn, die von hier oben talwärts, aber immer noch auf über 4.000 Metern, den Sulfur zur Mina Casualidad transportierte. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass hier seinerzeit hunderte Menschen arbeiteten und lebten, um das auf mich so surreal wirkende gelbe Material am Sternenberg zu gewinnen. In über 5.200 Metern Höhe bei eiskaltem Wind und solch sauerstoffarmer Luft, die jeden Schritt um ein Vielfaches mühevoller gestaltet, bin ich gerade hier, eingepackt wie im Winter zuhause, mir dessen bewusst, dass wir einen blendend schönen Tag erwischt haben und kann mir nicht ansatzweise vorstellen, wie man hier arbeiten und leben konnte. Zurück blieben nur die steinernen und eisernen Reste, die so unwirklich an diesem ohnehin schon unwirklichen Ort wirken.
Der andere Wagen ist bereits vor einer Weile losgefahren. Ich kann mich kaum losreißen, nach vielen Fotos und dem Versuch, möglichst viel dieser Szenerie auf meine interne Festplatte zu bannen, um sie für immer in meinem Gedächtnis zu bewahren, setzen auch wir für die Rückfahrt an. Wie bereits auf der Hinfahrt, verzücken mich die Büßerschneeformationen jedes Mal aufs Neue; aber nicht nur die, sondern auch die ganze surreale Farbenwelt um mich herum. Ich glaube, ich bin im Höhenrausch.
In der Mina Casualidad befand sich das Ende der Seilbahn, die den am Cerro Estrella gewonnenen Sulfur transportierte. Hier wurde das wertvolle Gelb in Lastwagen geladen und nach Caipe gebracht, wo die Fahrt mit der Bahn Richtung Iquiques Überseehafen fortgesetzt wurde. Bereits schon auf der Hinfahrt konnte ich von oberhalb einen Blick auf Mina Casualidad werfen – wieder ein einziger surrealer Anblick, ein Geisterort inmitten der karg-schönen Umgebung. Die Sulfurmine begann ihre Arbeit im gleichen Jahr, in dem Juan Domingo Perón seine erste Amtszeit als Präsident antrat. Auf dem Kalenderblatt stand die Jahreszahl 1946. 33 Jahre später wurde Mina Casualidad während der Militärdiktatur mangels Wirtschaftlichkeit geschlossen. Zeitweise lebten mehr als 3.000 Menschen an diesem Ort auf 4.033 Metern Höhe.
Mein Guide macht mit mir eine kleine Rundfahrt und lässt mich bei den Resten der Verarbeitungsanlagen aussteigen. Mutterseelenallein streife ich durch diesen faszinierenden Geisterort. Wo sonst gibt es noch diese Möglichkeit? Fernab jeder touristischen Selfie-Inszenierungen. Mein Höhenrausch findet kein Ende. Nach unzähligen Bildern erklimme ich den letzten kleinen Hügel zur Kirche. Bergauf muss ich einige Stopps einlegen, die Höhe macht sich bemerkbar. Während mein Fotoapparat im Dauereinsatz war und zum Glück keinen Sauerstoff zum Atmen benötigt, haben beide Guides in der Kirche das Mittagessen aufgebaut.
Soweit ich sehen kann, ist die Kirche das einzige Gebäude an diesem interessanten Ort, das noch über ein einigermaßen intaktes Dach verfügt. Das Schweizer Paar hat sein Mahl bereits beendet, als ich die Kirche betrete. Ich lasse mir das Essen schmecken, das mein Guide aufgetischt hat. Die Menge würde auch eine größere Gruppe sättigen. Die beiden Schweizer sind derweil im Ort unterwegs und mein Blick fällt auf ein Plakat an der Seitenwand. Ich bekomme den Text nicht komplett übersetzt und frage den anderen Guide, was der letzte Satz genau bedeutet. Er antwortet trocken: „Do not eat inside“. Ich breche in schallendes Gelächter aus. Noch heute muss ich schmunzeln, während ich diese Zeilen schreibe. Danach erfahre ich, was tatsächlich darauf steht. Kurz zusammengefasst und etwa das, was ich bereits auch verstanden hatte, das man das Haus Gottes ehren möge und diverse Verhaltensregeln, aber nichts davon, dass man nicht im Inneren essen soll.
Mein Guide möchte nicht, dass ich ihm helfe, alles einzupacken. Stattdessen schickt er mich noch einmal los, um weitere Fotos zu machen.
Wir verlassen die Mina Casualidad, natürlich aber nicht, ohne etwas weiter außerhalb den Friedhof anzuschauen. Ein Besuch dieses Ortes lässt mich nur erahnen, dass auch das Leben in diesem Minenort trotz einiger Annehmlichkeiten alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen sein muss. Davon zeugen auch verhältnismäßig viele Gräber von Kindern. Ein wenig traurig steige ich in den Wagen, vor uns liegt heute noch ein weiterer Stopp, in Caipe.
Während der Fahrt teste ich im Spiegel der Sonnenblende mein Lächeln und siehe da, die weißen Sprenkel sind wieder da. Mein Guide sagt mir, dass er dies noch nie zuvor bei einem Gast gesehen hätte. Für mich ist es auch ein Novum, aber ich habe keinerlei Schmerzen, überhaupt geht es mir insgesamt richtig gut. Der Höhenrausch mit Glücksgefühlen ohne Ende hat mich vollkommen eingenommen. Ein Rausch ohne Zufuhr irgendwelcher Mittelchen, wie wunderbar, ich könnte nur literweise Wasser trinken.
Wir fahren die gleiche Strecke wie am Morgen zurück und sehen dann auch irgendwann Caipe linker Hand oberhalb am Berg liegen. Caipe ist ein ebenfalls verlassener Ort mit nur wenigen Gebäuden und tatsächlich einigen Bäumen, nun gut, eher Sträuchern, aber dass diese hier überhaupt wachsen, finde ich beachtlich. Fotogen sind die verfallenen Gebäude und das Beachtliche an Caipe ist, dass dieser Ort über einen Bahnhof verfügt. Nach wie vor werden über diesen Bahnhof die von den umliegenden Minen geförderten Bodenschätze zu chilenischen Überseehäfen transportiert. Personenzüge fahren hier schon lange nicht mehr. In einem der Gebäude zeigt mein Guide mir eine Transportliste aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ich finde es spannend, dass diese Liste herumliegt und sie tatsächlich nicht mitgenommen wird. Wer weiß, wie sich das alles mit einer möglichen Zunahme des Tourismus ändern könnte.
Mein Guide ist unglaublich geduldig und drängt mich nicht. Es ist für ihn überhaupt kein Problem, dass wir scheinbar immer die Letzten sind, die abends die Unterkunft erreichen. So wohl auch heute. Es ist fast schon 19:00 Uhr. Eine Stunde später sitzen wir wieder im bekannten Restaurant. Noch sind wir die einzigen Gäste, später wird jeder Sitzplatz belegt sein. Heute gibt es Gemüsesuppe als Vorspeise und einen Hähnchenschenkel mit geschälten Kartoffeln zur Hauptspeise. Das finde ich klasse, so muss ich die Kartoffeln nicht aus der Haut pellen. Mir schmeckt Kartoffelhaut nicht. Auf den Nachtisch verzichte ich auch heute, ich habe definitiv wieder zu viel gegessen. Das Rahmenprogramm flimmert in Form irgendeiner argentinischen Soap über den in der Ecke hängenden Bildschirm.
Was war das wieder für ein Tag. Voll von Eindrücken und noch immer im Höhenrausch gehe ich zu Bett und frage mich, wie die folgenden Tage wohl werden, aber ein wenig ahne ich es schon.
„Wer die Abenteuerlichkeit des Reisens ins Blut bekommt, wird diese nicht wieder los.“
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Bruno H. Bürgel